QUIET WORDS

Betrachtungen des ultimativ Weiblichen

Pascal Morché

QUIET WORDS ist die gar nicht so stille Betrachtung des ultimativ Weiblichen, eine politisch unkorrekte Kolumne, deren Verfasser die Frauen kennt, sie liebend gerne beobachtet und seine Gedanken hier exklusiv niederschreibt.

Der bekannte Journalist Pascal Morché gilt als pointierter Autor, seine Kolumnen und Kommentare in führenden Tageszeitungen und Magazinen wie FAZ, SPIEGEL, die ZEIT und FOCUS zu Themen der Gesellschaft, Mode, Kunst und Kultur sind legendär. Seine Bücher "365 Tage Fashion" gelten als Bibel für Fashion Victims.

Von Neuem und vom Neuen

Was fasziniert und was stört uns daran?

Störer© Beauty.at

Jetzt haben wir es wieder getan! Wir haben den Kalender ausgetauscht - entweder digital im Smartphone, per Outlook oder iCal oder traditionell auf Papier in der Agenda. Die alten Blätter wurden abgeheftet; vielleicht auch lieblos mit Gummibändern zu einem Bündel speckiger, zerfledderter Seiten geschnürt und wanderten in jene Schublade, in der meist schon die Kalender der letzten Jahre liegen. Kann ja sein, dass man sie nochmal braucht, um irgendetwas, irgendwem, irgendwann zu beweisen – was meist nicht der Fall ist.

Die neuen Kalenderblätter, sie sind jetzt wichtig! Ende Dezember ging auf ihnen wieder die alljährliche Kalenderdefloration los: Alte Geburtstage in neue Monate eintragen; neue Termine für Ferien, für Steuern, den Zahnarzt, für Betriebsfeiern und Premieren auf dem frischen Papier vermerken – und schon sieht’s im neuen Kalender wie im Alten aus: Blaue Tinte, rote Striche, hier und da ein Fragezeichen.

Jetzt haben Sie, liebe Leserin, diesen Text angeklickt und....: Das neue Jahr wirkt schon wieder alt; in den nächsten, diesen neuen 365 Tagen wird die Zeit von Neuem ihr gnadenloses Seelenfresserwerk tun. Und doch, wenn wir den aktuellen Kalender einrichten, freuen wir uns, denn er ist (noch) frei von hässlichen Dingen, geplatzten Terminen, von gescheiterten kleinen Hoffnungen und enttäuschten großen Wünschen. Wir wissen zwar, dass auch im Neuen Jahr wieder vieles platzt, scheitert und enttäuscht wird, aber trotzig zu sagen „im neuen Jahr wird alles besser“ ist uns allemal lieber.

Schließlich gibt uns die Erfahrung ja recht: Ist das Neue nicht doch immer besser und schöner? – Zumindest solange, bis es eben nicht mehr neu ist. Bis wir uns daran gewöhnt haben, weil das Neue dann Seelenpatina angenommen hat. Bis dahin aber gilt: Die neue Handtasche ist meist schöner als alle alten zusammen; das neue Auto fährt vielleicht spritsparender und besser als jener Wagen, den wir gerade fahren; ein neues Mobiltelefon kann mehr als das alte und das neue Schmerzmittel vertreibt die Kopfschmerzen sowieso viel schneller als alles bisher Geschluckte. Meist verbinden wir mit etwas völlig Neuem auch etwas Positives! Wohlgemerkt: Meist. Nicht immer! Nur, warum?

Es klingt ziemlich unromantisch, aber: Neu stört! Und zwar gewaltig. Das beweisen die vielen „Störer“. Jene Buttons, Schilder und Etiketten mit aggressiv gezacktem Rand, die uns grell, schrill und laut anschreien und auf denen „neu“ steht. Sehr oft auch „jetzt neu“, oder natürlich „new“. Erfunden haben den Begriff „Störer“ übrigens die Werber, also jener Berufsstand, der immer auf der Suche ist, „wie“ er uns psychologisch etwas als „neu“, als „brandneu“, „mega-aktuell“ oder sogar als „das Neueste“ verkaufen kann. Die Werbefachleute sprechen bei diesen Störer-Etiketten von einem graphischen Element, das sich von seiner Umgebung abhebt und so den Gesamteindruck eines Bildes, Produktes oder Schaufensters mit dem Wort „neu“ stört. Statt vom „Störer“ hätten sie auch vom „Irritierer“ sprechen können. Haben sie aber nicht. Sie wollen’s brutaler. Und so macht die Werbung der Media- und Baumärkte denn auch vom Störer ebenso penetrant Gebrauch wie sie mit dem three-letter-word hemmungslos Zahnpastatuben, Waschmittel-Boxen,  Fertigsuppen oder Frischkäsepackungen zupflastert. Nur: Das Staunen, dass die drei Buchstaben  n e u  dann bei uns auslöst, ist ein ungläubiges. Billige Versprechen von Neuem, diesen ewigen Novitätenzwang, diese krankhafte Neomanie, sie haben wir als aufgeklärte Konsumenten, stilvolle Geniesser und kritische Verbraucher längst durchschaut. Und dennoch sehnen wir uns nach Neuem, fiebern ihm oftmals geradezu entgegen. Das Neue soll mehr sein als das Anklicken der Reset-Funktion.

Was jeder von uns sucht, was jeder für sich ersehnt, ist eben das „noch nie Dagewesene“ . Es ist unsere Sehnsucht nach dem bisher Unerhörten, nach der völlig neuen Idee. Dieses noch „nie Dagewesene“ zu entdecken, das „Unerhörte“ zu hören, ist gerade dann nicht einfach, wenn es nur als banales Synonym für Neues herhalten soll. Bereits vor 60 Jahren (die Welt war noch nicht so inflationär mit Störern zugeklebt) zog die Dichterin Ingeborg Bachmann ebenso skeptisch wie poetisch Bilanz. „Das Unerhörte ist alltäglich geworden“.

Von Johannes dem Täufer („sehet, ich mache alles neu“) bis zu irgendeinem ganz besonders hippen New Face Award sind wir zwar auf der Suche nach jenem Neuen, das doch bitte ein grundsätzlicher Neu-Anfang sein soll. Warum? Weil wir fühlen, dass wir eben nie so stark und nie so kreativ sind wie genau in diesem allerersten Moment, in dem wir dem Neuen begegnen – ledig von Altlasten! Nie sind wir näher bei uns, weil es auch niemals wieder so viele Möglichkeiten gibt, alles zu erreichen und richtig zu machen.

So ist das Auswechseln der Kalenderblätter und die Jahreswende mit ihren zwei magischen Tagen Silvester und Neujahr – jedem mulmigen Gefühl vor der Zukunft zum Trotz! – ein Moment existenzieller Schwerelosigkeit. Schließlich: „jedem Anfang wohnt ein Zauber inne, der uns beschützt und der uns hilft, zu leben“. Das ist ebenso schön wie richtig und steht bekanntlich in Herrmann Hesses Gedicht „Stufen“. Nur: Dieser neue Anfang bedeutet eben einiges mehr, als sich nur den Verlockungen neuer Produkte hinzugeben. Das macht zwar auch gehörig Spaß. Wer sich aber „nur“ neue Schuhe oder eine neue Handtasche kauft, erliegt dabei meist auch „nur“ einem Placebo des Neuen – und versenkt dann meist in der neuen Tasche doch wieder die alten Sachen. Vielleicht stehen Frauen dem Neuen (gerade wenn es ein schönes Prada-Gucci-D&G-Chanel-Placebo ist) viel offener gegenüber als wir Männer. Das beweist schon die für einen Mann schwer nachvollziehbare Liebe der Frau zu ihrem Friseurtermin: Während Männer unter den Scherenhänden flehen „schneiden Sie bitte so, dass ich aussehe, als sei ich nicht hier gewesen“, sagen Frauen „ich will mich fühlen wie ein neuer Mensch“. Da könnte mancher Mann dann an den Dramatiker Heiner Müller denken. Der fand „die erste Erscheinung des Neuen ist der Schrecken“. Allerdings meinte Heiner Müller damit nicht die Verwandlung zum Neuen vor einem Friseurspiegel. Er dachte vielmehr an den Epochenbruch, der stets mit Neuem beginnt – und bei vielen erstmal Schrecken auslöst.

Stimmt ja auch: Wenn wir das Neue von uns aus wollen, freuen wir uns darauf und darüber: neue Schuhe, neues Auto, neues Möbel, neues Aspirin. Wird uns das Neue aber von außen diktiert, macht es uns misstrauisch und erschreckt. „Für Ihren PC liegt ein neues Update vor!“. „Für Ihr Whatsapp gibt es eine neue Version!“. Ich empfinde das jedes Mal als Nötigung und gerate in Panik. Dabei zeige ich nur eine gesunde Reaktion. Ob gegen Eisenbahn, Jugendstil, Gen-Manipulation, Bauhaus oder Rechtschreibreform. Zunächst einmal hagelt es immer gewaltig Protest gegen das Neue.

Die schnelle Fahrt in der Eisenbahn könne zu Rückenmarkserkrankungen führen, mutmaßte man im 19. Jahrhundert über Tempo 40 km/h. Der Jugendstil sei völlig verspielt und zersetze die Moral; das Bauhaus viel zu puristisch und die Rechtschreibreform der Untergang der Sprache. Meist malt man den Horror an die Wand und vergisst: Das Neue per se ist weder gut noch schlecht. Es kommt eben darauf an, was wir daraus machen. Deshalb ist es falsch, Neues grundsätzlich abzulehnen, damit macht man sich entweder lächerlich oder schiesst sich aus der Zeit. Wie Kaiser Wilhelm II. um die Wende zum 20. Jahrhundert: „Ich glaube an das Pferd. Das Automobil ist nur eine vorübergehende Erscheinung.“

Wir Menschen sind eben doch Gewohnheitstiere und gehen lieber auf Nummer sicher. „Neue Gedanken werden von unseren automatischen Gehirnen nicht gerne aufgenommen.“ Der Satz klingt neu, wurde jedoch schon 1912 geschrieben von August Strindberg. „Neue Gedanken“, das heißt unbedingt auch neuer Stil. Das heißt: Unbekanntes zu entdecken. Das ist anstrengend und auch unsicher, weil das Neue terra incognita, unbekanntes Land ist und immer in der Zukunft liegt. Die können wir nur gestalten, wenn wir das Alte annehmen und uns zu den Werten des Vergangenen bekennen. Traditionen zu pflegen heisst eben nicht die Asche anzubeten, sondern das Feuer weiterzugeben.

Sich darin immer wieder selbst neu zu (er)finden, das wagen (leider?) die wenigsten . Auch große Künstler vertrauen nicht selten der einmal gefundenen, funktionierenden Masche, dem einmal etablierten Stil. Spontan fallen uns nur wenige ein, die den Mut haben, sich und ihren Stil wirklich immer wieder „neu“ zu erfinden: Madonna und der Maler Gerhard Richter.

Nur das wirklich Neue lässt uns Staunen. Doch was ist das? Das Baby, das neue Kunstwerk, der Moment des sich neu Verliebens. Störung? Aber bitte und unbedingt! Das Baby schreit – bis wir kein Gespräch mehr führen können. Das Kunstwerk irritiert – bis wir uns oftmals sogar ärgern. Die Liebe verwirrt – bis wir Tag und Nacht verwechseln. Es ist schon eine clevere Marketingidee, eine Singlebörse unter www.neu.at  zu etablieren. Diese Partnerseiten beweisen, wie man mit dem stets emotional aufgeladenen drei Buchstaben auch in der Liebe Erfolg haben kann. Nur: wenn die neue Frau oder der neue Mann nach dem Kennenlernen zum realen Fluchthelfer aus des jeweils anderen „alter“ Beziehung wird – dann ist wieder ganz schnell Schluß mit dem Zauber des Neuen. Niemals wollen wir mit altem Kram Neues belasten. Das Neue ist nämlich immer absolut, ist buchstäblich „rücksichtslos“. Es ist eben, wie die ersten Minuten im neuen Jahr, ein Moment ohne Blick zurück. Schade nur, dass es völlig utopisch ist, diesen Blick länger als bis Mitte Januar durchzuhalten. Dabei ist es genau das, was wir brauchen: Mehr Utopie und weniger Ziel. Mehr Sehnsucht nach Neuem und weniger neue Wünsche.

Fazit: Der Reiz, das Neue als das noch nie Dagewesene, das Unerhörte zu suchen und zu entdecken, ist unsere einzige Möglichkeit zu leben und uns lebendig zu fühlen. Jene, die das Neue dabei überrascht, denen gehört die Zukunft. Denn: „Alles Alte, soweit es den Anspruch darauf verdient hat, sollten wir lieben, aber für das Neue sollten wir eigentlich leben.“ Diesen Satz von Theodor Fontane könnten wir uns ganz vorne in den Kalender schreiben oder als neuen Claim auf dem Bildschirmschoner in Kurzfassung fixieren: Das Alte lieben, das Neue leben!

Also: Auch im neuen Jahr bedeutet Neues mehr als das neue Parfüm, die neue Frisur oder das neue Kleid. Wir wollen schließlich nicht nur angenehm gestört werden, weil uns jemand mit einem Versprechen von drei Buchstaben aus dem Alltagstrott entführen will. Wir sollten lieber selber stören. Das geht nur mit neuen Gedanken und neuen Ideen. Wenn wir die haben, dann wissen wir, dass wir leben. Dann sind wir im Idealfall selbst das Neue, sind sprichwörtlich „wie neu geboren“  – und zwar jeder für sich an jedem neuen Tag. Das ist immer wieder ein verdammt gutes Gefühl! Und dieses gute Gefühl lässt sich eben nicht einfach durch irgendein neues Wellness-Programm herbeizaubern. #quietwordspascalmorche

Pascal Morché

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