QUIET WORDS

Betrachtungen des ultimativ Weiblichen

Pascal Morché

QUIET WORDS ist die gar nicht so stille Betrachtung des ultimativ Weiblichen, eine politisch unkorrekte Kolumne, deren Verfasser die Frauen kennt, sie liebend gerne beobachtet und seine Gedanken hier exklusiv niederschreibt.

Der bekannte Journalist Pascal Morché gilt als pointierter Autor, seine Kolumnen und Kommentare in führenden Tageszeitungen und Magazinen wie FAZ, SPIEGEL, die ZEIT und FOCUS zu Themen der Gesellschaft, Mode, Kunst und Kultur sind legendär. Seine Bücher "365 Tage Fashion" gelten als Bibel für Fashion Victims.

OVERKNEES

Für wen arbeiten Sie? Jeder, aber auch wirklich jeder Modedesigner der Welt antwortet darauf: „Für die selbstbewusste Frau.” Diese Stereotype ist so sicher wie das Amen in der Kirche oder der Untergang der TITANIC.  Auch Designer von Frauenschuhen, so sie nicht gerade bei Mephisto oder Birkenstock in Lohn und Brot stehen, sagen: „Ich entwerfe für selbstbewusste, starke, für mutige Frauen.” Diese inflationäre Etikettierung der Zielguppe ist des Designers Freibrief für jede Art von Grenzüberschreitung und Normverletzung, für jede modische Verrücktheit und erotische Anzüglichkeit, denn sie zielt darauf, dass kaum eine Frau sagen wird: „Das trag ich nicht, ich bin dafür nicht selbstbewusst”.

Jimmy Choo© Jimmy Choo

Nun ist es schon der xte Winter in Folge, in dem ganz besonders viele selbstbewusste Frauen herumlaufen. Beweis: Ihre Stiefel. Stiefel, die anzuziehen Mut und Selbstbewusstsein fordern: Overknee-Stiefel! Denn wer kennt eine Frau, die diese Dinger nicht trägt? Angela Merkel und Ursula Stenzel vielleicht. Aber sonst? In Strassen und Fußgängerzonen; in Büros und Bars; in Supermärkten und Parks: Die Stiefel wollen nicht enden – genau wie der männliche Blick, der sie trifft. In ihm liegt das Geheimnis dieses Schuhwerks, weist doch schon der eingedeutschte Begriff „schenkelhohe Stiefel” in die dunkel-warmen Höhen ihres erotisch modischen Kosmos hinauf. Träumen nach oben; nicht nach vorwärts.

Gewiss: Wirklich selbstbewusste, starke Frauen wie Madonna und Rihanna ; Lindsay Lohan oder Victoria Beckham; Carla Bruni-Sarkozy und sogar Michelle Obama haben Overknees in jüngster Zeit und kraft ihrer Prominenz vom Image des Obszönen und Lasziven befreit; haben diese langen Stiefel rehabilitiert und am Bein der Durchschnittsfrau legitimiert. Doch modische Exzesse aller Art gehören ohnehin zum PR-Effekt der VIP-Damen. Die Modegeschichte der Overknee-Stiefel aber ist komplizierter, und jene erotische Faszination, die sie auslösen ist komplexer.

 

Alle Stiefel, die sich Frauen im Laufe der Jahrhunderte aneigneten, waren einst Männerschuhe. Deshalb schwingt bei ihnen - besonders bei langschäftigen - immer auch Zweideutiges, Geschlechtergrenzen Überschreitendes mit. Reitende Männer, Jäger, Postillione und Musketiere, ob Robin Hood oder Napoleon, ganze Kavallerien schützten ihre Knie mittels Stiefel, die bis zu den Oberschenkeln reichten.

 

So wurde den Overknee-Stiefeln das kämpferische Element modisch zu eigen. Eine Kämpferin - zweifellos selbstbewusst und mutig - ist es denn auch, die jene meterhohen „Thigh-High-Boots” 1961, am Frauenbein etabliert: Die emanzipierte, in engendes Leder gezwängte Amazonen-Agentin Emma Peel der TV-Serie „Mit Schirm, Charme und Melone”.  Als ein Jahr später, 1962, Mary Quant den Mini-Rock erfindet, sollen die Beine trotz stofflicher Verknappung nicht frieren. Designer wie André Courrèges, Pierre Cardin oder Paco Rabanne bestiefeln damals die Beine modebewusster Frauen möglichst hoch. Künstler der Pop-Art, allen voran Allen Jones oder die Fotografen David Bailey und Helmut Newton, entwerfen das ideale, futuristische Bild der emanzipierten Frau und festigen fortan in ihren Arbeiten den Fetischcharakter der Overknees. Als Stiefel für Dominas, also für jene Sozialarbeiterinnen, bei denen das Selbstbestimmte und Emanzipierte ebenso wie die Unnahbarkeit des Körpers fest zum erotischen Programm gehören, fassen Overknee-Stiefel Fuß im Rotlicht-Milieu. Und abermals garantieren sie Schutz: Beim Sex a tergo können Overknees Verbrennungen 1. Grades an den Kniescheiben verhindern. Auch diese Assoziation  - man denke nur an Teppichböden - machen sie erotisch.

 

Schnell hatten sie nun (deswegen?) ihre despektierlichen Namen weg: Nuttenstiefel, Fuck-Me-Boots! Und „Pretty Woman”, jenes letzte, große „Irma la Douce”-Revival der 90er-Jahre, tut dann ein übriges, um das erotische Image der Overknees weiter zu festigen. Dabei gibt es zwei gute Gründe, warum kein Erotomane und Stiefelliebhaber Julia Roberts als Bordsteinschwalbe in Overknees jemals wirklich ernstnehmen konnte: Erstens ist Roberts nur die clean-lächelnde Doris Day unserer Tage und zweitens sitzen ihre Overknees vollkommen falsch, nämlich nicht eng genug am Schenkel.

 

Nicht Schuhen, sondern einzig Stiefeln ist es möglich – man sieht es am Trend der Ankle-Boots – die Proportionen von Frauenbeinen zu bestimmen. Die Demarkationslinie, die Stiefel normalerweise unterhalb der Knie (besonders in der Phantasie des Mannes) zeichnen, sie entfällt. Dem männlichen Blick verlängern sie das Bein der Frau und entziehen es ihm. Das Knie, das Coco Chanel als „hässlichster Körperteil des Menschen” bezeichnet, erscheint in Overknee-Stiefeln künstlich und zugleich vor Kälte wie vor Reibungshitze geschützt. Egal, ob die langen Dinger nun von Louboutin oder von Deichmann stammen; ob sie im Jimmy Choo-Shop oder bei Stiefel-König gekauft wurden: Kein, wirklich kein öffentlich getragenes Kleidungsstück wird mehr von Assoziationen begleitet, ist so sehr von Vorstellungen kontaminiert und durch erotische Bilder besetzt wie Overknee-Stiefel. Zwar konnten sie sich nach mehreren Saisonen als Klassiker etablieren und sind in der Mitte der Gesellschaft angekommen. Auf die Frage aber, was denn das Besondere an Overknees sei, windet sich die Verkäuferin bei Humanic in Wien ebenso wie bei Goertz in Hamburgs Mönkebergstrasse: „Das muß ich ihnen nun aber wirklich nicht erklären”. Auch nächsten Winter werden sie wieder in den Regalen der Schuhgeschäfte stehen: „Ein mutiges Thema”, kichert die Verkäuferin von Jimmy Choo in München ein wenig verklemmt „denn die haben ja einen gewissen Ruf.” Ach was?

 

Genau dieser „Ruf” ist es ja, der es auch weiterhin der denkenden modischen Frau nicht möglich macht, unreflektiert „in” die „schenkelhohen Stiefel” zu steigen. Und wenn sie es tut, ist es kein Zufall, dass sie meist von Männern Bewunderung erntet – von kurzbestiefelten Geschlechtsgenossinnen aber oft neidische oder missbilligende Blicke einfängt. Damit jedoch kann die Overknees-Trägerin ja nun wirklich locker umgehen. Schliesslich weiss sie: um diese Stiefel zu tragen, braucht man mehr Selbstbewusstsein, als sich ein Hermès-Carrée um den Hals zu legen. Ein Wissen, das eine schenkelhoch bestiefelte Frau meist auch ziemlich stark auftreten lässt.

#quietwordspascalmorche

                                                               Pascal Morché