QUIET WORDS

Betrachtungen des ultimativ Weiblichen

Ich könnte, wenn ich wollte, dass ich es täte!

Alles ist möglich und das kann sehr anstrengend sein.

Ich liebe den Konjunktiv nicht, ich verfluche ihn sogar. Kennen Sie das auch, liebe Leserin? Überall lauert (mindestens!) eine andere Möglichkeit etwas zu tun, zu machen, zu können. Also, ich fühle mich vom Möglichen belästigt, unter Druck gesetzt, ja, sogar genötigt. Ich würde am liebsten so manch andere Möglichkeit justiziabel verfolgen. Sie der Straftat der Nötigung bezichtigen und verklagen.

Moeglichkeiten

Eine Möglichkeit kommt selten allein. Immer muss ich mich entscheiden, muss die eine oder andere Möglichkeit ergreifen oder wählen. Heute den roten Pullover anziehen? Möglich wäre ja auch, den blauen zu tragen. Nach Venedig fahren? Wo es doch ebenso möglich wäre, nach Paris zu fliegen. Sushi bestellen? Obwohl, es auch die Möglichkeit gäbe, ein Gulasch zu verspeisen. Tristan und Isolde in den CD-Player schieben? Ich habe doch noch die Möglichkeit, zwischen sechs verschiedenen Così fan tutte-Einspielungen zu wählen. Ich sage Ihnen: Es ist schrecklich! Es macht einfach keinen Spaß! Auch wenn pseudoschicke Menschen das Wort „optional“ verwenden. Optional zu Sushi und Wagner hätte das Leben in diesem, meine Entscheidung fordernden Moment noch Gulasch oder Mozart im Angebot. Klingt gut, ist aber die Hölle für den, der die Entscheidung scheut.

Ich bin nicht so masochistisch, dass ich die Qual der Wahl genieße. Vor allem: sogar nachdem ich mich durchgerungen habe und mich „für“ etwas entschied, geht der Terror der anderen Möglichkeit ja weiter. Die andere Möglichkeit ruht nicht, niemals. Noch während ich Wasabi-Paste auf die Sushi-Garnele streiche, um dann ein dünnes, schlabbriges Ingwer-Plättchen darauf zu kleben, denke ich: wie wunderbar würde mir jetzt ein Kalbsrahmgulasch schmecken?

Der angewandte Konjunktiv fordert immer eine Entscheidung. Und mit jeder Entscheidung, entscheidet man sich immer auch gegen etwas . Es scheint psychologisch inzwischen gesichert zu sein, dass Männer nicht gerne Entscheidungen treffen, zumindest keine zu emotionalen Themen wie zwischenmenschlichen Beziehungen. Männer sind lieber „Entscheider“ in Unternehmen; in Politik und Wirtschaft – von „Entscheiderinnen“ hört man selten.

„Sie sind entscheidungsstark?“ ist eine dieser Phrasen, die man in Stellenbeschreibungen liest. Dass sich viele Frauen immer noch nur zögerlich dazu bekennen, ist bedauerlich. Wahrscheinlich haben sie zu viele chauvinistische Unterstellungen verinnerlicht. Zum Beispiel, dass Frauen unentschlossen vor ihrem Kleiderschrank stünden. Sie wissen, Ihr Kolumnist versteht Sie: Ich ziehe mich nämlich manchmal dreimal täglich um – und fühle mich dann immer noch nicht wohl.

Männer treffen ebenso wie Frauen täglich bis zu 20.000 Mikro-Entscheidungen, das haben inzwischen Hirnforscher herausgefunden. Kleine, unbewusst getroffene Entscheidungen wie die Wahl des Sitzplatzes in der U-Bahn. Mir macht sogar diese Wahl Probleme,  denn sie schließt jedes Mal andere Sitzplatz- Möglichkeiten aus. Wahrscheinlich fällt es einem phantasievollen, intelligenten Menschen schwerer eine Entscheidung zu treffen. Der wahre Depp hat’s auch als Entscheider leichter: „Madrid oder Mailand, Hauptsache Italien!“

Entscheidungsunfähigkeit kann Teil einer Krankheit sein und heißt Abulie. Das griechische Wort steht für krankhafte Willensschwäche oder Unentschlossenheit und ist ein Symptom bei Depressionen, Psychosen und Persönlichkeitsstörungen. Bei Menschen, die davon geplagt sind, kommen Vorsätze nicht mehr zur Ausführung. In schweren Fällen kann das zum völligen Verlust der Willenskraft führen. Die Folge: Schwierigkeiten den Alltag zu bewältigen (welchen Sitzplatz in der U-Bahn nehme ich nun?) und soziale Isolation. Das ist alles gar nicht schön. Man verpasst nicht nur den Sitzplatz, sondern auch das Leben. Die österreichische Schriftstellerin Marie von Ebner-Eschenbach hat dies wunderbar auf den Punkt gebracht: „Wenn die Zeit kommt, in der man könnte, ist jene Zeit um, in der man kann.“

Mein Held ist übrigens „Bartleby, der Schreiber“. So heißt eine kleine Erzählung von Herman Melville, die ich Ihnen zu diesem Thema dringend empfehlen kann. Die Geschichte spielt in einer Zeit, als es noch keine Fotokopierer in Büros gab und sie geht so: Bartleby schreibt in einer Anwaltskanzlei unermüdlich Verträge ab. Jede andere Tätigkeit lehnt er mit den Worten ab: „I would prefer not to...“ In völliger Willenlosigkeit erstarrt Bartleby, kommt in ein Gefängnis, das nicht ohne Grund „The Tombs“ (Die Gräber) heißt. Dort verweigert mein Held Kommunikation und Nahrung und stirbt schließlich an Lebensverweigerung. Diese Erzählung ist das schönste und größte literarische Beispiel für Abulie.                      

Ich kann die Geschichte (leider!) sehr gut nachvollziehen. Ich kann mir vorstellen, dass ich verhungere, weil ich die Entscheidung „Sushi oder Gulasch?“ nicht treffen kann. Wenn ich Sushi wähle, habe ich schließlich das Gulasch verpasst. Furchtbar: Leben heißt, sich zu entscheiden (20.000 Mal am Tag!) und sich dabei immer wieder dem verdammten Konjunktiv auszuliefern. Möglich ist alles. Muss das sein?

#pascalmorche

ÜBER DEN AUTOR

Pascal Morché

QUIET WORDS ist die gar nicht so stille Betrachtung des ultimativ Weiblichen, eine politisch unkorrekte Kolumne, deren Verfasser die Frauen kennt, sie liebend gerne beobachtet und seine Gedanken hier exklusiv niederschreibt.

Der bekannte Journalist Pascal Morché gilt als pointierter Autor, seine Kolumnen und Kommentare in führenden Tageszeitungen und Magazinen wie FAZ, SPIEGEL, die ZEIT und FOCUS zu Themen der Gesellschaft, Mode, Kunst und Kultur sind legendär. Seine "Lesungen der besonderen Art" haben Kultstatus. Seine Bücher "365 Tage Fashion" gelten als Bibel für Fashion Victims. 
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