QUIET WORDS

Betrachtungen des ultimativ Weiblichen

Pascal Morché

QUIET WORDS ist die gar nicht so stille Betrachtung des ultimativ Weiblichen, eine politisch unkorrekte Kolumne, deren Verfasser die Frauen kennt, sie liebend gerne beobachtet und seine Gedanken hier exklusiv niederschreibt.

Der bekannte Journalist Pascal Morché gilt als pointierter Autor, seine Kolumnen und Kommentare in führenden Tageszeitungen und Magazinen wie FAZ, SPIEGEL, die ZEIT und FOCUS zu Themen der Gesellschaft, Mode, Kunst und Kultur sind legendär. Seine Bücher "365 Tage Fashion" gelten als Bibel für Fashion Victims.

„Vom Küssen mit geschlossenen Augen“

Frauen legen mehr Wert auf das Küssen als wir Männer. Immer wieder sagen sie uns, wie wichtig es ihnen ist. Während wir auch Kerosin verruste Landebahnen, Fußballrasen oder Sportpokale küssen, – und dies stets mit geöffneten Augen – haben es Frauen hauptsächlich auf unseren Mund abgesehen.

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Beim Küssen schließen dann 92 von hundert Frauen die Augen (von hundert Männern tun dies nur 52). Das mag daran liegen, dass wir Männer eben der Realität nicht ausweichen: "Schau mir in die Augen, Kleines". Frauen aber fliehen den Blick: Sind Männer so flach wie Landebahnen, so stachelig wie Fußballrasen, sind sie so kalt wie Sportpokale, dass Frauen sich dabei etwas anderes vorstellen müssen? Sie scheinen die Kuss-Qualität nur dann beurteilen zu können, wenn sie ihre Welt während der Schnäbelei in einen darkroom verwandeln. Wahrscheinlich ist das so, weil sie trotz multitasking-Fähigkeiten nicht gleichzeitig sehen „und“ schmecken können. Kommen bei ihnen mehrere Sinneswahrnehmungen zusammen, meldet ihre Festplatte "error" und stürzt ab. In ihrem ganz persönlichen darkroom empfinden Frauen das Küssen aber dann wohl so intensiv, das sie meist dabei erst entscheiden, ob mehr daraus wird? Übrigens kann ihr Kussurteil auch ziemlich brutal ausfallen. Gretchen zu Faust: "O weh! deine Lippen sind kalt...Wo ist dein Lieben geblieben.?"

Er, der Euch kennt, glaubt zu wissen, warum Frauen mehr vom Küssen verstehen: Weibliche Primaten drückten schon vor ein paar Millionen Jahren nur deshalb die Lippen aufeinander, um die banale Übergabe vorgekauter Nahrung vom Mund der Mutter in den Kinderschnabel zu garantieren. Diesen Reflex haben Frauen sich bis heute bewahrt. Auch wenn am Ende der Evolution der pürierte Inhalt von Alete- und Hipp-Gläschen steht, dürfte dies der Grund sein, warum Frauen lieber (und besser!) küssen als Männer.

24 Küsse täglich verlängern das Leben um fünf Jahre. Das sagt die Statistik. Die Französin Martine Mourier hat sich in ihrer 220 Seiten starken Doktorarbeit mit dem Titel "Physiologische, psychologische, künstlerische, epidemologische und prophylaktische Aspekte des Kusses" mit dem Phänomen des Knutschens beschäftigt. Ein oraler Rundumschlag der akademischen Sonderklasse, der wohl bitter nötig war, da sich im Registerband der Gesammelten Werke Sigmund Freuds "nur" sechzehn Verweise zu "Kuss, Küssen" finden. Die Fachfrau hat festgestellt, dass beim Küssen die Nebennieren mehr Adrenalin und die Bauchspeicheldrüse mehr Insulin produzieren, dass ein 3-minütiger Kuss 12 Kalorien verbrennt und während des Küssens die Körpertemperatur um 0,5°Celsius und der Blutdruck auf 150 steigen.

Damit ist das Küssen eine gesunde Trend-Sportart bei der, so Mourier, nicht weniger als 29 Gesichtsmuskeln in Bewegung geraten. Gesundheitliche Vorteile sieht die Kuss-Expertin auch darin, dass mit den 61 mg Wasser, 0,7 mg Albumin (Eiweiß), 0,16 mg Drüsensekret, 0,45 mg Salz und 0,76 mg Fett, aus denen ein Kuss besteht auch 300 bis 22.000 Bakterien und Keime übertragen werden, die unser Immunsystem stärken. Ach, herrliche Abwehrkräfte und lebensverlängernde Maßnahmen! Deshalb küssen Frauen wohl sogar morgens gerne, selbst wenn man am Abend getrunken und geraucht hat und mit seinem Atem Kleintiere spalten könnte.

Wir Männer messen dem Küssen wohl auch nicht jene Bedeutung zu wie es Frauen tun , weil wir ganz einfach kitschresistenter sind. Wie wäre der recht despektierliche Ausspruch von Tony Curtis anders zu deuten: Auf die Frage, wie es denn sei, Marilyn Monroe zu küssen, antwortete Curtis: "Es ist wie Adolf Hitler zu küssen." Wir Männer sind eben nicht auf den Mund gefallen und empirisch behalten wir auch recht: Die Küsserei alter Herren hat weder den Kommunismus vor dem Untergang bewahrt, noch haben Küsse zwischen Mann und Frau jemals für wirkliche Befriedigung gesorgt. Meist hat sich auch jede Menge Kitsch an die Lippen gehängt. Ob als Leinwand-Ornament der Traumfabrik Hollywoods oder als Klaus Kinski'sche Sehnsucht nach einem Erdbeermund; es sabbert schon sehr gefühlsduselig aus den Mundwinkeln. Da Männer dann immer wieder den Vorwurf hören, „du bist einfach nicht romantisch genug“, nochmals die Frage: Warum nur schließen Frauen beim Küssen die Augen?

Die Antwort ist paradox: Frauen sehen nämlich viel besser als Männer. Nur nutzen sie diese Fähigkeiten nicht (immer) richtig aus. Sie schließen ihre Augen ja nicht nur beim Küssen und beim Sex, sondern ebenso beim Verzehr eines Sorbets. Soviel ungenutzte Sehkraft! Es ist, als besitze man einen Ferrari, würde damit aber niemals schneller fahren als 40 Stundenkilometer.

Daß Frauen besser sehen, ist auch wissenschaftlich bewiesen. Frauenaugen sind – auch ohne Lidschatten und Wimperntusche – anders konstruiert. Auf der männlichen Netzhaut sorgen sieben Millionen stäbchenförmige Zellen für die Farbwahrnehmung. Frauen aber verfügen über doppelt so viele Zellen. Ein Unterschied, der sich unter anderem darin ausdrückt, dass Frauen Farben viel exakter beschreiben können. Während sich Männer auf Rot, Blau oder Grün beschränken, spricht eine Frau von Eierschalfarben, Blaugrün, Aquamarin oder Mauve. Perfide, wie Modedesigner sind, nutzen sie diese besondere weibliche Sehfähigkeit, indem sie laufend sprachromantisch verquaste Modefarben wie Currygelb oder Limonengrün auf den Markt bringen. Wir Männer sind gegen solche Poesie völlig immun. Oder haben Sie jemals einen Mann sagen hören: „Ich habe mir einen Pullover in Mauve gekauft“?

Für solchen Sprachkitsch öffnen Frauen gerne die Augen; sonst suchen sie lieber die Dunkelheit: Nicht nur, dass sie ihre Augen beim Küssen schließen; sie dimmen auch das Licht im Schlafzimmer und halten Restaurants mit Kerzenlicht grundsätzlich für romantisch – selbst wenn es dort so duster ist, dass man Messer und Gabel als Blindenstock auf dem Teller benutzen muss, um überhaupt auf Nahrung zu stoßen.

Nur, warum sind Frauen so lichtscheue Geschöpfe? Warum schließen sie so gern die Augen, wenn sie fühlen? Angst vor der Wirklichkeit, der harten Realität? Vielleicht sagen sie sich: Alles was darüber hinausgeht, erträumt sich besser mit geschlossenen Augen. Oder sie schließen die Augen aus Angst vor sich selbst. Aus Angst vor dem eigenen Absturz, weil sie erstmals bemerken würden, wie schwindelerregend hoch ihre Highheels sind, auf denen sie stehen. Vielleicht können sie auch die phallische Schönheit eines Magnum-Eises nicht sehenden Auges ertragen, weil sie mit Rilke wissen, „das Schöne ist nichts als des Schrecklichen Anfang“.

Ja, wahrscheinlich ist Frauen die Wirklichkeit viel zu banal. Und da wir Männer nun einmal zu dieser Wirklichkeit gehören, sollten wir zumindest damit rechnen, dass Frauen sich hinter ihren geschlossenen Augenlidern in eine Welt der Phantasie flüchten, in der auch wir besser, klüger und attraktiver erscheinen, als wir es bei hellem Licht sind. Nichts ist schöner als der Selbstbetrug– auch für die klügste Frau.

Ich werde weiterhin im Dunkeln tappen und nicht verstehen, warum Frauen die Dunkelheit so sehr lieben. Ich weiß nur, was alle großen Verführer seit Henry Miller wissen sollten – „dass man Frauen erst die Augen öffnen muss, damit sie sie schließen können“. Und damit sie die Küsse genießen. #quietwordspascalmorche

                                                               Pascal Morché

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